Jesper Juul

Ein Nachruf von Peter Høeg

Jesper Juul habe ich 2008 bei einem der Gründungstreffen der Foreningen Børns Livskundskab (Vereinigung zur Förderung der Lebensweisehit von Kindern) kennengelernt. Er trug eine Jacke aus Kaschmir, die er die ganze Zeit anbehielt, bis er von einem Taxi abgeholt wurde, um seinen Flug nach Tokio nicht zu verpassen.

Er war auf dem Weg nach Japan, um dort eine Filiale seines weltweiten, stetig wachsenden Netzwerkes FamilyLab zu eröffnen. Und so habe ich ihn auch in den darauffolgenden, bewegten, fast explosiven Jahren erlebt. Er war immer unterwegs, immer mit der Jacke bekleidet und einer Zigarette in der Hand. Der Gedanke, dass er sich damit zugrunderichtet, war unvermeidbar. Die Sorge, dass ihn seine grenzenlose und unermüdliche Großzügigkeit, mit der er seine Hilfe, sein Wissen, seine Vorträge, seine Gespräche und Begegnungen und den nicht versiegenden Strom an Büchern mit den Menschen teilte, eines Tages das Leben kosten würde.

Peter Høeg und Jesper Juul (Foto: Hanneli Ågotsdatter)

Jesper erklärte allen, dass man nur geben kann, wenn man Überschuss hat. Denn wenn man mehr gibt als man hat, braucht man seinen Reservetank auf. Seine Zuhörer haben es verstanden, aber ihm selbst fiel es nicht leicht, diese Fürsorge auch bei sich anzuwenden.

Wir haben ihm das oft gesagt: „Jesper, wir wünschen uns, dass du besser auf dich aufpasst. Es gibt so viele, die dich so sehr brauchen.” – „Ich weiß, ich weiß”, antwortete er. „Ich versuche es ja, aber es ist schwer.” In seiner Antwort konnten wir hören, wie groß die Last seiner Verantwortung war. Die Tausenden von Menschen, mit denen er einen persönlichen Kontakt gehabt hatte, und die Millionen von Menschen, die auf unterschiedlichste Weise von ihm inspiriert worden sind.

Er nannte das „nach außen gerichtete Arbeit”, die Vorträge vor großem Publikum, die Reisen, die Debatten, sowohl die schriftliche Auseinandersetzung mit einem Thema als auch die Liveauftritte, um ’auf dem Pferdekarren’ zu stehen. Dieses Bild stammt vom Beginn der Moderne, als die Kritiker der totalitären Mächte ihre Reden von improvisierten Rednerpulten auf Pferdekarren hielten (im Kongens Have steht die Statue des Reformpolitikers Viggo Hørup, der auf einem Anhänger steht und eine Rede hält. Würde man ihm seinen Bart abrasieren, würde er Jesper Juul wie aus dem Gesicht geschnitten ähneln. Dieselbe massive körperliche Präsenz, dieselbe kraftvolle Leidenschaft und ein unersättlicher Durst nach Gerechtigkeit, dieselbe Durschlagskraft). Das hatte Jesper seinen jüngeren Auszubildenen immer geraten: Geht raus und stellt euch auf die Pferdekarren, nur dort lernt man die Fähigkeit, mit seinem Publikum in Kontakt zu kommen.

Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen in Dänemark hat sich in den vergangenen 60 Jahren erheblich verbessert, und daran hat Jesper Juul einen großen Anteil gehabt. Es macht einen einfach froh, wenn man ihn reden hört oder seine Bücher liest, die großen Klassiker zum Beispiel Das kompetente Kind, Vom Gehorsam zur Verantwortung oder eines seiner neuesten Werke Leitwölfe sein, über die Führungsrolle in einer Familie. Und man denkt: Der Mann hat Recht!

Peter Høeg, Jesper Juul und Helle Jensen (Foto: Hanneli Ågotsdatter)

Jespers Arbeit, die er zusammen mit einem weiteren Giganten entwickelt hat, seiner Kollegin, engen Vertrauten und Freundin, der Psychologin Helle Jensen, unterscheidet sich fundamental von den vielen pädagogischen Moden, die kommen und gehen und auf lange Sicht doch nur die Oberfläche streifen. Jespers und Helles Erkenntnis und Haltung, dass jedem Lehr- und Entwicklungsprozess eine menschliche Beziehung zugrundeliegt, ist nicht nur eine Theorie unter vielen. Es beschreibt ganz einfach, worum es auf der Welt geht. Was notwendig ist, um die Beziehung zwischen den Einzelnen in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, in unserer Gesellschaft und auf der Erde zu verbessern.

In der Tat ist es gar nicht so schwer, diese Zusammenhänge zu verstehen. Vor allem, wenn Jesper sie einem erklärte. Sonnenklar wurde einem dann, dass es darum geht, dass wir alle unserer Echtheit mehr vertrauen. Denn mit dieser Authentizität, mit der wir geboren werden, können wir anderen mit Respekt vor ihrer Individualität begegnen.
Das ist überhaupt nicht schwer zu verstehen, aber es ist sehr schwierig, es zu leben. Jespers Leben war von seinem Bestreben bestimmt, den Menschen diese Haltung beizubringen, um sie umsetzen zu können.

Er war vollkommen undogmatisch. Sowohl in der Vereinsarbeit in Børns Livskundskab, bei der Entwicklung neuer Buchprojekte, in Feuilletonbeiträgen, Filmen, auf Konferenzen, bei Pilotprojekten für die Lehrerausbildung an der Universität und Weiterbildung in Grundschulen sowie bei der internationalen Ausbildung zum Empathietraining https://trainingempathy.com. Jespers Wunsch zur Zusammenarbeit und Offenheit war sehr bewegend. Er hat nie den Versuch unternommen, auf die Grenzen der Fachgebiete zu bestehen oder seinen eigenen Anteil hervorzuheben. Er war davon gertrieben, den Kindern und Erwachsenen dieser Welt das Leben zu erleichtern, und wenn er Verbündete und Wegefährten fand, die dasselbe Ziel verfolgten, hieß er sie herzlich willkommen.

Ein Teil seines beeindruckenden Formats fand Ausdruck in seiner Unverstelltheit. Er war kein Snob, ließ sich nicht beeindrucken, war frech und, verzeiht mir, wenn ich es so direkt sage, sexy. Auf eine ganz unschuldige Weise.

Ich habe ihn damit einmal konfrontiert. Wir waren von der deutschen Vogue zu einem Interview eingeladen worden, denn Jesper hat in Deutschland den Status eines der ganz großen Propheten. Es war also notwendig, dass wir ’unsere Violinen stimmen’, um auf einer Wellenlänge zu sein, damit wir dem Journalisten mit einer gemeinsamen Stimme begegneten. „Jesper”, habe ich gesagt, „du darfst nicht vergessen, dass du ein Straßenjunge bist, ein Verführer. Wenn du vor 700 Leuten redest, verführst du Männer und Frauen gleichermaßen und einige der anwesenden Frauen denken: Wenn er nur der Vater meiner Kinder wäre.” Ungläubig sah er mich an. Ich konnte sehen, dass ihm dieser Gedanken wirklich vollkommen fremd war.
„Du hast Kontakt zu deinem inneren Kind”, erhöhte ich den Druck, „darum kannst du Familien helfen, und zwar weltweit. Du weißt, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein.” Einen Augenblick lang war er stumm. Dann schüttelte er den Kopf. Seine Bescheidenheit stand ihm im Weg, er konnte diese Anerkennung nicht annehmen. „Du irrst dich”, erwiderte er. „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Kontakt zu meinem inneren Kind habe.” Wir sahen uns an. Ich wusste, dass ich Recht hatte. Ich wusste es damals und ich weiß es heute.

Jesper Juul hatte nicht nur auf eine einzigartige Weise Kontakt zu seinem inneren Kind, sondern zu einer ganzen Schar: Zu dem Straßenjungen, dem empfindsamen Kind, dem göttlichen und kreativen Kind. So schrieb er seine Texte, unterrichtete er und gab seine Beratungen. Das nährte sein Mitgefühl, das aus ihm strömte.

Jesper Juul (Foto: Hanneli Ågotsdatter)

Er war nicht sentimental, verharrte nicht in der Vergangenheit. Er würde sagen, dass wir jetzt nach vorne sehen sollen. In einer Zeit, in der viele nationale und internationale Gemeinschaften bedroht sind und es nach Taten schreit. Aber es gibt auch Licht im Dunkeln: In Dänemark werden Jespers therapeutische Ansätze und Impulse vom Dansk Institut for Familiterapi (Dänisches Institut für Familientherapie) weitergetragen. In Deutschland übernimmt diese Aufgabe das Deutsch-Dänische Institut für Familientherapie. Helle Jensen führt ihre und Jespers Arbeit auf der großen europäischen Bühne fort. In den USA sind Mette Miriam Böll und Peter Senge verantwortlich für die Ausbildung von Lehrern und Schulleitern, und werden dabei von vielen Lehrern von der Vereinigung Børns Livskundskab unterstützt. Und auch die Vereinigung selbst wächst stetig, seit sie von Helle und Jesper gegründet wurde. Damals baten sie die Verantwortlichen vom Vækstcenteret (Zentrum für Wachstum) um Zusammenarbeit, weil sie eine Pädagogik entwickeln wollten, die Kindern und Jugendlichen hilft, ihre natürliche Anlage zum Selbstgefühl zu stärken. Lone Fjorbak vom Dansk Center for Mindfulness (http://mindfulness.au.dk/) arbeitet seit Monaten zusammen mit Katinka Götzsche, der Vorsitzenden der Vereinigung Børns Livskundskab, an einem großen Projekt, das Mindfulness und Beziehungskompetenz in den dänischen Grundschulen etabliert. Und Jespers eigene Organisation, das FamilyLab, hat mittlerweile weltweit in über 20 Ländern Ableger.  

Trotzdem dürfen wir unsere Trauer spüren, bevor wir wieder den Kopf heben und nach vorne blicken. Wir dürfen betrauern, dass eine große Eiche, eine wunderbare Persönlichkeit, ein sehr großer und überzeugter Freund der Menschen, der großen und der kleinen, und ein bedeutsames und kraftvolles Zugpferd für einen tatsächlichen, nachhaltigen, menschlichen Fortschritt für immer gegangen ist.

Peter Høeg, Juli 2019

Aus dem Dänischen von Kerstin Schöps